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Wort und Ton — Verbund oder Widerstreit der Künste?

Rede anläßlich der Verleihung des Habbena-Preises 1978

Stellen Sie sich vor: ein Schloß in der Nähe von Paris um das Jahr 1775. Im Salon haben sich in einer größeren Gesellschaft ein Komponist, Flamand, und ein Dichter, Olivier, eingefunden. Beide wetteifern mit ihren Kunstschöpfungen um die Gunst der Gräfin; Flamand hat ihr ein Musikstück, Olivier ein Sonett gewidmet. Die Rivalen stellen sich die Frage, wessen Kunst den Sieg davontragen wird: ‘Wort oder Ton? — Sie wird es entscheiden!’ Jeder ist überzeugt, daß seiner Kunst der Vorrang gebühre.

Dies ist die Ausgangssituation von ‘Capriccio’, einer Oper, genauer eines ‘Konversationsstückes für Musik’, von Clemens Krauss und Richard Strauß — ein Werk, zu Beginn der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts entstanden, in dem es um die Frage einer Rangordnung der beiden Künste, Musik und Dichtung, geht.

Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Künste soll auch unser Thema sein.

Es stellt sich hier naturgemäß sofort die Frage nach der Verbindung von Künsten überhaupt — etwa auch der von Musik und Tanz im Ballett oder der von Sprache und bewegtem Bild im Film —, doch sei sie hier im angegebenen Sinne eingeschränkt verstanden; weiterhin soll diese Frage regional und epochal eingeschränkt sein auf das christliche Abendland.

Andererseits wollen wir unser Problem nun auch gleich wieder allgemeiner fassen, indem wir den nicht von vornherein klaren Begriff der Kunst zunächst erweitern wollen zum Begriff des Mediums, durch welches ein Gedanke erst erfahrbar wird.

Wir werden sehen, daß diejenigen gedanklichen Bereiche, die diese beiden Medien, Wort und Ton, auszudrücken je in besonderem Maße geeignet erscheinen, nicht identisch sind, da jedes der beiden Medien einen von seiner spezifischen Ausdrucksmöglichkeit her favorisierten Gedankenbereich besitzt.

So meint Olivier, der Dichter in ‘Capriccio’: ‘Nicht in unfaßbaren Klängen, in klarer Sprache forme ich meine Gedanken. Dies ist der Musik für immer verwehrt.’ — was den Komponisten Flamand zu der Antwort veranlaßt: ‘Mein Gedanke ist die Melodie. Sie kündet Tieferes, ein Unaussprechliches! In einem Akkord erlebst du eine Welt.’

So unbestreitbar die Kritik Oliviers an der nicht eindeutig entschlüsselbaren oder, besser gesagt, an der nicht eindeutig sprachlich faßbaren Aussage der Musik ist — Olivier macht hier die sprachliche Faßbarkeit zum Maß aller Gedanken —, so zutreffend ist demgegenüber auch die in Flamands Replik enthaltene Verwertung eben dieser Tatsache zugunsten der Musik: daß nämlich die sprachliche Wiedergabe des in der Musik enthaltenen Gedankens nicht möglich ist, heißt doch eben, daß es auch Gedanken gibt, die in angemessener Weise wiederzugeben der Musik vorbehalten ist. Im Unterschied zu Dichtung und beispielsweise auch Bildender Kunst, die sich mit großer begrifflicher Eindeutigkeit mitzuteilen vermögen, entbehrt die Musik auf der Ebene inhaltlicher Vermittlung einer derartigen Eindeutigkeit. An einer Überwindung dieser inhaltlichen Unbestimmtheit haben bedeutende Tonsetzer mit verschiedenen Mitteln gearbeitet: erwähnt seien hier nur Bachs symbolische Tonfigurationen, die Leitmotivik Wagners und allgemein die Bemühungen der sogenannten Programmusik. Die Musik drückt also Inhalte gleichsam vor-sprachlichen allgemeiner, nicht begriffsdefinit aus, vermag aber gerade dadurch Inhalte einer ursprünglicheren, Ebene zu vermitteln. Olivier ist dem Irrtum erlegen, daß ein Gedanke schon stets sprachlich sein müsse, was für begriffsdefinite Gedanken zutreffen mag; dies muß jedoch nicht von mehr affektiv, emotional geprägten Gedanken gesagt werden, die eher im Ausdrucksbereich der Musik liegen.

Beethoven schreibt: ‘Melodie ist das sinnliche Leben der Poesie; wird nicht der geistige Inhalt eines Gedichts zum sinnlichen Gefühl durch die Melodie?’ Ähnlich wird in ‘Capriccio’ durch zwei kurze Bemerkungen des Komponisten und des Dichters angedeutet, daß durch die Vermittlung auf der begriffsdefiniten beziehungsweise vor-sprachlichen Ebene der Rezipient entsprechend auf einer wachen, bewußten beziehungsweise traumhaft unbewußten Ebene angesprochen wird. — Beide beobachten die Gräfin, wie sie der Komposition Flamands lauscht; Flamand sagt: ‘Mit geschlossenen Augen hört sie ergriffen —’ und Olivier: ‘Ihren strahlenden offnen Augen — hört sie meine Verse — geb ich entschieden den Vorzug.’ Das geschlossene Auge des Aufnehmenden steht hier zeichenhaft für Bereiche des Mystischen, für Unschaubares, für den innerlichen Erlebensvorgang, das geöffnete Auge für das Schaubare des klaren Begriffs.

Aus all diesen Äußerungen geht hervor, daß eine gewisse Geschiedenheit der Aussagebereiche aufgrund der verschiedenen Aussagemöglichkeiten der Medien anzunehmen ist, aber andererseits doch auch dies, daß eine gewisse — vielleicht partielle — Gemeinsamkeit, eine teilweise Überlagerung dieser Bereiche angenommen werden kann; auch Fischer-Dieskau spricht in seinem Essay zum deutschen Klavierlied von diesem ‘gemeinsamen Bereich’ — er nennt ihn ‘Landschaft der Seele’. Es gibt demnach Gedanken, die zur Gänze oder in Teilen in beiden Medien ausgedrückt werden können; da jedoch in den beiden Medien nicht alle Teile desselben Gedankens gleich stark wiedergegeben werden, heißt dies, daß zur vollständigeren, aussagekräftigsten Wiedergabe des Gedankens beide Medien ihr Teil beitragen können und also im Dienste der künstlerischen Effizienz dürfen.

In einer Richtung ist dieser Vervollständigungs- und Verstärkungsprozeß geläufig, daß nämlich ein vorliegender Text vertont wird; doch auch das Ungenügen an der Musik, das das Hinzutreten der Sprache dem Komponisten notwendig werden läßt, ist beispielsweise aus Beethovens neunter Symphonie bekannt.

Mit dem Prozeß des Hinzutretens von Musik zu Sprache haben wir es auch in 'Capriccio' zu tun. Ein Sonett des Dichters wird zu dessen Entsetzen vom Komponisten vertont. Die Gräfin hingegen erlebt gerade durch die Verbindung von Wort und Ton einen erhöhten Kunstgenuß: ‘Des Dichters Worte, wie leuchten sie klar!’ und später: 'Wie schön die Worte, kaum kenn' ich sie wieder! Wie innig ihr Auruck und stürmisch ihr Werben!’ Als sie aber versucht zu entscheiden, 'sind es die Worte, die mein Herz bewegen, oder sind es die Töne, die stärker sprechen — ’, muß sie feststellen: ‘Alles verwirrt sich — Worte klingen, Töne sprechen —’ und kommt zu dem Schluß: ‘Vergebliches Müh’n, die beiden zu trennen. In eins verschmolzen sind Worte und Töne — zu einem Neuen verbunden.’

Dies ist die These, die wir aufstellen wollen: ein neues, untrennbares, einheitliches Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile, entsteht aus der Verbindung der Medien ein überadditiver Synergismus liegt vor.

Zur Prüfung dieser These sei eine Antithese formuliert: das Verhältnis von Wort und Ton, treten sie vereint auf, ist durch Widerstreit gekennzeichnet, ein Antagonismus liegt vor. (Am Rande sei erwähnt, daß das bestimmte synenergetische Verhältnis von Ton und Wort viele Autoren zu der Bemerkung veranlaßt, daß sich Wort und Ton zueinander verhalten wie Mann und Frau, doch mag dieser Vergleich für eine Entscheidung zwischen Synergismus und Antagonismus pythischer Art bleiben.) Die Argumentation betreffend These und Antithese wird uns im Folgenden beschäftigen.

Aus zweierlei Grund hat eine Betrachtung des Verhältnisses von Ton und Wort im abendländischen Kulturraum ihr Zusammenwirken auch und zunächst im religiösen Bereich zu beachten: einmal ist es die musikgeschichtliche Kunde, die uns über Jahrhunderte hin nur aus diesem Bereich in verläßlichen Zeugnissen oder Traditionen überkommen ist; zum anderen erfährt der

sprachlich-musikalische Verbund wohl seine besondere Prüfung am Hinzutritt des musikalischen Klanges zu dem Wort, das auch die Wahrheit genannt wird. Welcher Art nun ist die Stellung der Musik im religiösen Bereich, der Bezug, in den sie zum Heiligen Wort tritt?

Daß die Musik üblicher Bestandteil des Gottesdienstes ist, wird unter anderem schon aus dem Begriff der ‘missa privata’, der der Musik „beraubten“ Messe, als einer Sonderform deutlich. Doch wozu dient sie? Im ‘Motu proprio’ von 1903 heißt es: ‘Sie dient dazu, Zierde und Glanz der heiligen Riten zu erhöhen. Ihre besondere Aufgabe besteht darin, mit geeigneten Melodien den liturgischen Text, der ans Ohr der Gläubigen dringt, auszuschmücken.’ Und in der ‘Konstitution über die Heilige Liturgie’ des II. Vatikanischen Konzils steht: ‘... so wird denn die Kirchenmusik umso heiliger sein, je enger sie mit der liturgischen Handlung verbunden ist, sei es, daß sie das Gebet inniger zum Ausdruck bringt oder die Einmütigkeit fördert, sei es, daß sie die heiligen Riten mit größerer Feierlichkeit umgibt.’ Die Komparative ‘inniger’, ‘größer’ lassen erkennen, daß die Musik als Steigerung der religiösen Inhalte empfunden wird: ‘ad maiorem gloriam Dei’.

Daß jedoch das Verhältnis so klar nicht ist, der Wert dieses Verbundes so unstrittig nicht immer war, zeigen andererseits folgende Äußerungen Augustins: ‘Ich bemerke nämlich, daß die heiligen Aussprüche selbst unser Gemüt inniger rühren und die Glut der Andacht lebhafter entfachen, wenn sie in solcher Art gesungen werden, als wenn sie nicht gesungen werden…; aber auch hier täuscht mich oftmals die Ergötzung der Sinne, der man sich hüten muß den Geist auszuliefern, damit sie ihn nicht entnerve. So fehle ich, ohne es zu merken, nachträglich aber bemerke ich es wohl…; bedenke ich aber, daß es doch auch jetzt nicht der Gesang ist, was mich bewegt, sondern die gesungenen Worte, wenn sie mit klarer Stimme und völlig angemessenem Tonfalle gesungen werden, so erkenne ich auch wieder den großen Nutzen dieser Einrichtung an. So schwanke ich hin und her, bald die Gefahr der Ergötzung bedenkend, bald die selbsterfahrene Ersprießlichkeit, mehr aber neige dazu, den herkömmlichen Gesang in der Kirche zu billigen, in der Meinung, daß durch die Freude, welche Ohren empfinden, schwächere Gemüter zu frommen Empfindungen angeregt werden können. Trotzdem bekenne ich, daß ich fehle und Strafe verdiene, wenn mich wie es ja geschehen mag, mehr der Gesang bewegt ab die Sache, welcher der Gesang gilt, und dann würde ich den Sänger lieber nicht hören.’

Hier werden mehrere generelle Probleme angesprochen. Vor allem wird besorgt die Frage aufgeworfen, ob nicht in der Kirchenmusik gelegentlich das rein Ästhetische über den religiösen Inhalt die Oberhand gewinne, ob nicht gerade das, was verstärkt vermittelt werden soll, durch diese Vermittlung verdrängt wird. Zugleich gesteht Augustin mit seiner Sorge wie mit seiner Billigung die größere Wirkkraft des musikalischen Teils der Übermittlung ein, der auch jenseits der Willenskräfte des Hörers, nämlich sogar ‘ohn-merklich’ zu wirken vermag. (Wir werden an das bewußte und das unbewußte Aufnehmen mit offenen beziehungsweise geschlossenen Augen erinnert.)

Besonders deutlich wird die Gewichtung von Inhalt und ästhetischer Form in den Kompositionsweisen des Gregorianischen Chorals: da sind zum einen die syllabisch komponierten Teile, die von der Sinnbetonung des Wortes ausgehen (und in etwa den späteren Rezitativen entsprechen), zum anderen die melismatischen, die von der Melodie ausgehen (und vergleichsweise arios zu nennen wären). Wie waren das Schwelgen in Tönen, die mannigfaltigen melismatischen Verzierungen der Hymnodien und Jubilationen im Gegensatz zu den strengen, auf das Wort und den Inhalt gerichteten, syllabischen Psalmodien zu rechtfertigen?

In seiner Oper ‘Moses und Aron’ weist Schönberg dem für die Reinheit des Gottesgedankens kämpfenden Moses eine reine Sprechrolle zu, während er Aron, der in Verbildlichungsversuchen — gipfelnd im Goldenen Kalb — den unfaßbaren und unsichtbaren Gedanken dem Volk nahebringen will, gleichsam im Belcanto-Stil singen läßt — Aron, der Verunreiniger des Gedankens! Doch Augustin gibt eine andere Antwort: der Mensch gebrauche im Übermaß des Jubels keine Worte mehr, sondern verleihe seiner Freude in Lauten allgemeineren Charakters Ausdruck; es komme in diesem Zustand nicht darauf an, den Wortsinn zu begreifen, sondern allen seinen Gefühlen elementaren Ausdruck zu verleihen.

Er spricht hier verschlüsselt der Musik einen Charakter zu, der sie in die nächste Nähe der göttlichen Wahrheit selbst rückt; sie erscheint nicht mehr nur dem Heiligen Wort beigeordnet, vielmehr als das Vor-Sprachliche, das Überwort, das in seiner Wortlosigkeit dem unsagbaren Gott am nächsten steht.

Von dieser Gottesnähe der Musik spricht auch Luther: ‘Denn die Musika ist eine Gabe und ein Geschenk Gottes, nicht ein Menschgeschenk; ...ich gebe nach der Theologia der Musika den nächsten Platz und höchste Ehre.’ Auch er gesteht der Musik eine Wirkung zu, die unmittelbar zu Gott hinführt: ‘...so vertreibt sie auch den Teufel und machet die Leut fröhlich;’ — auch vertreibe sie alle Laster. In gleicher Weise ist auch Ambrosius — nach einem berühmten überlieferten Ausspruch — hiervon überzeugt: bis orat qui bene cantat.

Bekannt ist die Auseinandersetzung über den Konflikt von Inhaltsvermittlung und ästhetischem Mittel im 16. Jahrhundert auf dem Tridentiner Konzil, wo Pius IV. plante, die mehrstimmige Kirchenmusik abzuschaffen, bis ihn Palestrinas ‘Missa Papae Marcelli’ — die ‘Retterin der Kirchenmusik’ — überzeugte, daß in der Komposition trotz kunstreichster polyphoner Struktur die Verständlichkeit des Textes nicht leiden müsse und zudem eine würdige und andachtsvolle Wirkung erreicht werden könne.

Aber noch ein anderes Problem wirft die Augustin-Stelle auf: die Freude an der Musik könne schwächere Gemüter frommen Empfindungen nahebringen. — Ist die Musik also ein Instrument der Taktik, eventuell gar eine Dienerin beliebiger Strategien auf beliebige Ziele hin? — ein äußerliches Mittel der Psychagogie, das eben nur durch den Zweck geheiligt wird? Augustin und Luther, die wir hörten, würden einer derartigen Mißbrauchbarkeit der Musik widersprechen, sie eindeutig im Dienste nur des schlechthin Guten sehen (‘Böse Menschen haben keine Lieder’, wie es der Volksmund in Vereinfachung eines Seumeschen Gedichts gern sagt); Luther besteht in seinem Gedicht ‘Frau Musika’ darauf: ‘Hie kann nicht sein ein böser Mut, wo da singen Gesellen gut’ und gleichermaßen Cervantes im Don Quichote: ‘Wo Musik ist, da kann nichts Böses sein.’

Und doch haben wir festgestellt, daß in dem Medium Musik der zugrundeliegende, inspirierende Gedanke nie inhaltlich eindeutig hörbar ist, so daß es also keine eigentlich religiöse Musik geben kann, sondern daß eben nur die allgemeinen Gefühlsstimmungen, die die Musik ausdrücken kann, auch im religiösen Zusammenhang auftreten und für ihn in Dienst genommen werden können. Man denke nur an das häufig angewandte sogenannte Parodieverfahren, das bei einer weltlichen Komposition den weltlichen Text einfach gegen einen geistlichen austauscht, oder an das Strophenlied, in dem auf dieselbe Musik mehrere verschiedene Textstrophen gesungen werden.

Ist es nun so, daß die Musik eine bloß taktische, psychagogische Rolle — im negativen Bilde gesprochen, die eines ‘Rattenfängers von Hameln’ — übernehmen kann? Wir stoßen hier auf ein Phänomen, das im Rahmen unseres Themas nur Erwähnung, nicht Ausschöpfung finden kann: denn in der Tat vermag die musikalische Einkleidung eines Inhalts nicht nur ‘fromme Empfindungen’ zu suggerieren oder gruppendynamisch, etwa im Gemeindegesang, die ‘Einmütigkeit’ der Gläubigen zu ‘fördern’; nein, sie vermag Gruppen und Massen zu guten wie zu verderblichen Zielen ‘einmütig’ zusammenzuzwingen: die Gemeinde bekennt im Kirchenlied einmütig ihren Gott, Sozialisten in aller Welt spüren Stärke, wenn sie mit gereckter Faust die ‘Internationale’ absingen, Regierungen schicken Tausende, mit einem begeisternden Marschlied auf den Lippen, an die Front, ins Töten und Sterben. Was alle verbindetund eben auch alle Zwecke in der Musik zu bündeln vermag, ist jenes angenehme Empfinden, das Musik — inhalts- und wertfrei — zu vermitteln vermag und das nie ausbeutbar macht. Diese Erfahrungen sollen hier nur genannt sein. Unser Thema hat jedoch fortzuschreiten in der Betrachtung des Medienverbunds und seiner Leistungsfähigkeit,

Um in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Schönbergschen Oper ‘Moses und Aron’ für unser Thema zurückzukommen: es ist ein Irrtum Moses’ anzunehmen, die Musik verunreinige den Gedanken, die Sprache aber sei sein genaues Abbild; auch die Sprache — wie die Musik — gibt den Gedanken als hindurchgegangen durch ein vermittelndes Medium wieder. Wie die Musik so ist auch das Wort keine eindeutige Wiedergabe des religiösen Inhalts, da dieser hinter beiden liegt.

Bedeutsam am Schönbergschen Sinnbild für unser Problem ist die transformierende Durchführung des Gleichnisses, in dem er den singenden Aron als den der Sprache, und das heißt der Mitteilung schlechthin, Mächtigen vorstellt, den sprechenden Moses hingegen als den eigentlich Sprachlosen, der schlechthin das Übermitteln von Wahrheit scheut. Das musikalische Medium wird in diesem Gleichnis also als Symbol für Medien, Übermittlungsträger überhaupt, behandelt und nur als solches verurteilt. — Hier wird das grundlegende Problem berührt, daß jedwedes Medium auf eine ihm eigene Weise die ‘Botschaft’ verändert und durch seine ihm eigene Gestalt zum guten Teil schon selbst ‘Botschaft’ ist.

Neben dem großen Bereich der sprachlich-musikalischen Verbindung im Gottesdienst, der wesentlich kommunikativ orientiert ist, insofern er Verkündigung im weitesten Sinne beabsichtigt, also an der Wirkung der Übermittlung interessiert ist, existiert der bedeutsame Bereich der Wort-Ton-Verbindung im weltlichen Kunstschaffen, in Lied und Oper, das sich nicht nur kommunikativ, sondern noch mehr repräsentierend versteht, insofern es Welt repräsentieren — das heißt nachschaffen, im Kunstwerk noch einmal setzen, realisieren — will und dies eben im Reichtum der Medien sucht. Auf anderer Ebene wiederholt sich hier ein ähnlicher Konflikt in der Vereinigung von ursprünglich eigenständigen Medien.

Im Jahre 1774 schrieb Herder an Gluck: ‘Der große Zwist zwischen Poesie und Musik ist die Frage: welche von beiden soll dienen? welche herrschen? Der Musiker will, daß seine herrschen soll, der Dichter auch; und daher stehen sie sich oft im Wege.’ Sehen wir uns hierzu einige Stellungnahmen in ihrer Zeit führender Opernkomponisten an. Monteverdi, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Kunstgattung, das ‘Dramma per Musica’ (!), erst eigentlich zum Leben erweckte, sagte: ‘Die Sprache sei Herrin der Harmonie, nicht Dienerin.’ Gluck, der im 18. Jahrhundert gegen den Verzierungsunrat in den Bravourarien der Barockoper zu Felde zog und in seinen Opern zu einer neuen Natürlichkeit des Ausdrucks gelangte, äußert sich in seiner berühmten ‘Alceste’-Vorrede folgendermaßen: ‘Einfach und natürlich strebt meine Musik, soweit es mir möglich ist, immer nur nach der höchsten Kraft des Ausdrucks und nach Verstärkung der Deklamation in der Poesie…; ich bemühte mich also, die Musik auf ihre eigentliche Aufgabe zurückzuführen. wonach sie der Dichtung durch Verstärkung des Ausdrucks der Empfindung und des Reizes der Situation zu dienen, nicht aber die Handlung zu unterbrechen oder ihren Eindruck durch unnütze oder überflüssige Ziertaten abzuschwächen hat.’ Mozart wiederum schrieb in einem Brief an seinen Vater: 'Bei einer Opera muß schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter sein.’

Blicken wir ins 19. Jahrhundert, so wollen wir zunächst, stellvertretend für eine größere Anzahl von Musikern, Lortzing seine Erwartungen an ein Textbuch formulieren lassen: ‘Hier Gelegenheit zu einem Liede, dort zu einer Arie, da zu einem Duett, Ensemble, Chor usw. ...muß doch alles, was die Poesie ausmacht, tiefe, große Gedanken, blühende Bilder, Reinheit des Reims, Glatte und Fluß der Sprache usw., durch den Komponisten zu Asche verbrannt werden, damit der Phönix Musik daraus entstehen könne.’ — ln diesem Verständnis dient die Poesie als Mittel zum Zweck der Musik. Die Unterordnung geht bis zur Vernichtung des einen Mediums durch das andere.

Dies sei festgehalten, um den Kontrast zu dem nun zu zitierenden, gewichtigsten musikalischen Schöpfer des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen: ‘Zunächst kann mich kein Stoff anziehen, als nur ein solcher, der sich mir nicht nur in seiner dichterischen, sondern auch in seiner musikalischen Bedeutung zugleich darstellt. Ehe ich dann daran gehe, einen Vers zu machen, bin ich bereits in dem musikalischen Dufte meiner Schöpfung berauscht, ich habe alle Töne, alle charakteristischen Motive im Kopfe, so daß. wenn dann die Verse fertig und die Scenen geordnet sind, die eigentliche Oper ebenfalls schon fertig ist und die detaillierte musikalische Bearbeitung mehr eine ruhige und besonnene Nacharbeit ist, der das Moment des eigentlichen Produzierens bereits vorausgegangen ist.’ Und weiterhin: ‘Das höchste gemeinsame Kunstwerk ist das Drama: nach seiner möglichen Fülle kann es nur vorhanden sein, wenn in ihm jede Kunstart in ihrer höchsten Fülle vorhanden ist.’ Diese Bemerkungen Wagners erhellen verschiedene Aspekte des Problems.

Es wird klar, daß bei der Frage der Rangordnung der Künste unterschieden werden muß zwischen der Wirkung des fertigen Gesamtwerks einerseits und seiner Entstehung andererseits.

Die hier besprochenen Urteile über die Wirkung des musikalisch-sprachlichen Doppelmediums reichten über die ganze Skala der denkbaren Wertungen, von einer Verstärkung und Vertiefung der Sprache durch die Musik über ihre gegenseitige Erhöhung und Erweiterung hin zu einer Gefährdung des Worts durch den gesungenen Ton bis schließlich hin zur Verunreinigung des Gedankens und, mehr noch, zur Vernichtung der Dichtung durch die Musik. Demgegenüber tritt uns im schöpferischen Prozeß als Regel eine eigentümlich konstante Rangordnung beider Künste entgegen: nämlich die der Anregung, Befruchtung, Auslösung des musikalischen Einfalles durch die dichterische Form.

So bekannte Beethoven über die Dichtungen Goethes: ‘Ich werde gestimmt und aufgeregt zum Komponieren durch diese Sprache, die wie durch Geister zu höherer Ordnung sich aufbaut und das Geheimnis der Harmonien schon in sich trägt.’ Ähnlich äußerte sich Schubert in einem Brief: er fahnde förmlich nach Gedichten, die ihm den musikalischen Einfall vermittelten; es gebe solche, bei denen sich kein musikalischer Gedanke einstellen wolle, und andere, bei denen die Musik wie von selbst zu fließen beginne. — Der Komponist scheint nur eigentlich der Musikalität der Sprache nachgespürt zu haben. — So fragt sich auch die Gräfin in ‘Capriccio’ anläßlich der Vertonung des Sonetts: ‘Wo liegt der Ursprung? Haben ihm die Worte die Melodie vorgesungen? Trägt die Sprache schon Gesang in sich?’

Die diesem Wechselbezug offenbar zugrundeliegend tiefere Affinität beider Künste ist ein in all seinen Bedingungen unenthülltes Geheimnis, dessen sich auch die Dichter bewußt waren: so nennt Goethe seine Gedichte bedeutungsvoll ‘Lieder’; gerade darum auch steht er ihrer Vertonung reserviert gegenüber, äußert mit Bestimmtheit aber zumindest dies: ‘Die Musik hat gegenüber dem Gedicht eine dienende Haltung einzunehmen. ’

In anderer aufschlußreicher Weise tritt uns das Verhältnis einer kreativen Abhängigkeit der musikalischen νon der dichterischen Form in der Arbeit der berühmten Schöpfer-Paare vor Augen, die sich, oft in langwierigen Debatten, über jedes Detail hinsichtlich seiner dichterischen wie musikalischen Eignung verständigen mußten wovon etwa im Falle Strauß/Hofmannsthal ein umfangreicher Briefwechsel Kunde gibt. Diese eigentümliche ‘Verbündung’ sonst autark schaffender Künstler zum Zwecke des ‘Verbundes’ ihrer Künste ist ein geschichtlich relativ junges Phänomen; war früher — zumindest Bereich der Oper — die Vertonung eines gebrauchsfertigen Librettos ohne Ansehen seines spezifisch literarischen Ranges die Regel, so häufen sich in der jüngeren Vergangenheit Beispiele für die Mitarbeit wirklich anspruchsvoller Dichter und Literaten am Entstehungsprozeß des sprachlich-musikalischen Werks

Kehren wir zum Beispiel Wagners zurück, so wird ein wieder anderes sprachlich-musikalisches Verhältnis ganz eigener Prägung sichtbar: er ist als Dramatiker sein eigener Dichter, als Dichter sein eigener Kompositeur. Daß die Künste in diesem Fall im schöpferischen Prozeß in ein ganz eigenes, außerordentliches Verhältnis zueinander treten, das insbesondere die Frage nach einer Vor- oder Nachordnung, Abfolge, Abhängigkeit oder Rangordnung sinnlos werden läßt, geht deutlich hervor aus den zitierten Äußerungen Wagners, der, ausgehend von einem dramatisierbaren Stoff, hei Erstellung des Textes diesen bereits auf die schon in Gedanken mitkomponierte Musik hin hörte.

Die Besonderheit des sprachlich-musikalischen Verbundes bei Wagner und anderen Dichterkomponisten besteht darin, daß nicht Sprache vertont wird und auch nicht eine musikalische Idee sprachlich ausgestattet wird, sondern daß beide, Dichtung und Musik, gemeinsam auf ein Drittes hin entstehen: auf die dramatische Idee hin. Wir haben bei diesem Phänomen also durchaus auch ein Modell der kreativen Rangordnung oder Abhängigkeit vor uns, nur gleichsam als Ordnung eines höheren Grades bzw. einer erweiterten Dimension. Für den in anders gelagerten sprachlich-musikalischen Schöpfungen so geläufigen Konflikt von Dichtung und Komposition hat Wagner von seiner Warte her naturgemäß wenig Verständnis; in seiner Schrift ‘Oper und Drama’ rügt er beispielsweise den Vorrang der Musik in älteren Opern: ‘Der Irrtum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausducks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht wurde.’ Und an anderer Stelle heißt es, der dramatische Handlungsablauf werde nur dazu benutzt, um der Musik eine Möglichkeit zu geben, sich selbst zur Schau zu stellen.

Daß andererseits Wagners Texte, für sich genommen, gerade nicht die von ihm für alle im Gesamtkunstwerk zusammentretenden Künste geforderte ‘höchste Fülle’ der Dichtkunst erreichen, erklärt sich eben aus diesem eigentümlichen Schaffensprozeß, in dem keine der beiden Künste je unverschmolzen existiert: der Text ist nicht als eigenständiges Element empfunden und erdacht worden, sondern von vornherein auf andere, im Textbuch unsichtbare, musikalische Bedingungen hin konzipiert worden; tritt er jedoch als Teil des Gesamtkunstwerks auf und ertönt er im ursprünglich gemeinten sprachlichmusikalischen Verbund, so hebt sich die ‘Qualität’ des Textes, er wird poetisch gerechtfertigt, die Überadditivität des Synergismus wird sichtbar. Eine ähnliche Abhängigkeit liegt auf Seiten der Musik vor, deren oft krasse Stimmungswechsel beispielsweise eben nur aus der Handlung zu erklären sind.

Dieser besonders glückliche Synergismus, wie er sich in diesem musikalisch-sprachlichen Verbund ‘höheren Grades’ ereignet, scheint in der Tat vorauszusetzen, daß nicht eine autonome, rein literarisch konzipierte Dichtung in diesen Verbund tritt, sondern — nennen wir es am Beispiel Wagners so: — eine Art ‘Musikdichtung’. Sie wächst im Verbund mit dem Tonsatz über sich hinaus, während in der Tat autark literarische Sprachschöpfungen in diesem Verbund wohl stets und unvermeidbar einen gewissen Verlust ganz bestimmter, rein sprachdichterisch empfundener Qualitäten erleiden. Man denke nur daran, wie sehr sich der Zeitfaktor verändert, wenn durch die Komposition aus wenigen Sätzen etwa eine zehnminütige Szene wird; oder daran, daß sich Betonungen einzelner Worte und Gewichtungen ganzer Phrasen verschieben können.

Olivier formuliert das, nachdem er sein Sonett komponiert gehört hat, so: ‘Ich wußte es ja, er zerstört meine Verse. Das schöne Ebenmaß ist dahin. Vernichtet der Reim — die Sätze zerstückelt, willkürlich zerlegt in einzelne Silben, in kurz und lang ausgehaltene Töne! Sie nennen es ‘Phrase’, die Herren Musikanten! Wer achtet nun noch auf den Sinn des Gedichts? Die schmeichelnden Töne, sie triumphieren!’ und an anderer Stelle gibt der Bruder der Gräfin, für den die Opernkomponisten ‘Wortmörder’ sind, zu bedenken:‘Ob der Text gut oder schlecht, ist ohne Bedeutung. Niemand kann ihn verstehen.’ — Pierre Boulez formuliert es ähnlich und gibt auch eine Antwort zur Frage der Textverständlichkeit: ‘Der Gesang erfordert die Übertragung der Klänge des Gedichts auf Intervalle und Rhythmen, die von den gesprochenen Intervallen und Rhythmen grundsätzlich verschieden sind. Es geht nicht um eine vertiefte Diktion, sondern um eine Umwandlung und, gestehen wir es ein, Zerstückelung des Gedichts’; und an anderer Stelle: ‘Wenn ihr den Text verstehen wollt, dann lest ihn, oder laßt ihn euch vorsprechen: eine bessere Lösung gibt es nicht.’ — Anders als Lortzing, der, wie wir hörten, die Verzehrung des Wortes durch den Tonsatz geradezu als Geburtsakt der Musik feiert, erkennt Boulez in diesem Vorgang durchaus ein Übel, aber eben ein kaum vermeidbares.

Dennoch weist gerade die Oper, übrigens auch wieder das moderne Musical, hier den Weg eines Kompromisses, der die gegenseitige Steigerung der Medien nicht aufgibt und dennoch den Verlust des Einzelmediums im Verbund gering hält, nämlich durch einen Wechsel des Vorrangs von Wort und Musik in den Formen des Rezitativs und der Arie. Im handlungstragenden und handlungstreibenden Rezitativ hat unter Zurückdrängung der musikalischen Erfindung das Wort in guter akustischer Verständlichkeit und nahezu sprachgeschwindem Ablauf den Vorrang, so daß die eigentlich musikalische Beschreibung der theatralischen Situation oder auch eines Gefühlszustandes ihren Platz hierneben in der handlungsreflektierenden Arie haben kann.

Hier tritt das überadditive Gesamtkunstwerk nicht, wie bei Wagner, mit gleichsam jedem Atemzug in vollkommener Verschmelzung der Künste in Erscheinung, sondern wird erst als Gesamtablauf eines planvollen Wechsels von bewußt gegeneinander gesetzten Vorrangigkeiten erfahrbar.

Kehren wir ein letztes Mal und zum Schlusse unserer Überlegungen zurück ins Schloß, wo die Gräfin mit sich zu Rate geht, zu wessen Gunsten ihr Urteil ausfallen soll. Sie hat jedoch nun nicht mehr zwischen zwei Künsten zu entscheiden, etwa dem Musikstück Flamands und dem Sonett Oliviers, den im Beginn der Oper konkurrierenden Festgaben der beiden Rivalen; vielmehr erfordert es die nach der Vertonung des Sonetts entstandene Situation, daß ihr Spruch entscheiden soll, welche der beiden Künste höheren Anteil an der aus beiden neu entstandenen Schöpfung habe. Daß sie sich dieses Urteils enthalten wird, beruht zutiefst in der durch die Verschmelzung der beiden Künste im Lied entstandenen Unlösbarkeit, die sie so reflektiert: ‘Vergebliches Müh’n, die beiden zu trennen. In eins verschmolzen sind Worte und Töne — zu einem Neuen verbunden. Geheimnis der Stunde — Eine Kunst durch die andere erlöst!’ Sie läßt es nicht bei einem Verzicht auf das wählende Urteil bewenden, sondern sie fällt ein Urteil über beide Künste, indem sie das Doppelkunstwerk Lied in einem mystischen Bilde feiert: ‘... eine Kunst durch die andere erlöst!’ In diesem Wort klingt an, daß keine Kunst die andere überwinden oder ersetzen kann, daß aber auch jede Kunst für sich ein Ungenügendes bleibt im Ausdruck der tiefsten Wahrheit.

So behält Schönbergs Moses recht, wenn er dies für unmöglich, für blasphemisch hält, so wird andererseits Aron gerechtfertigt, der sich hierum mit vielerlei Mitteln bemüht. — Es wird schließlich mit dem Gedanken der ‘Erlösung’ der einzelnen Kunst im Gesamtkunstwerk ein großer, auch theologisch faßbarer Gedanke sichtbar: daß die ewige Wahrheit, der Schöpfer, sich nicht angemessen in einem Ding mitteilen konnte; erst die Fülle der Schöpfung, das Miteinander der vielen Gestalten, gibt ein Bild des Einen, des Undarstellbaren: der Wahrheit.

(Erschienen in "Das Graue Kloster - Zeitschrift der Vereinigung ehemaliger Klosteraner", Jahrg. 1980, S. 13 ff.)

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